17. Dezember 2015

2015 - Ein historisches Jahr?


Die ARD meldet, 2015 so viele “Brennpunkte” ausgestrahlt zu haben wie seit 1999 nicht mehr (1999 war nicht unbedingt ein Krisenjahr, aber es gab den Kosovokrieg und Lafontaines Regierungsaustritt). 2015 geht in die Geschichte ein als Jahr der Überforderung, auch der Medien. Schon bei der Aufzählung der Ereignisse weiß man gar nicht, wo anfangen.

2015 sah zahlreiche Terroranschläge (u.a. zweimal Paris, Nigeria, Tunesien, Kenia, Mali, mehrere in der Türkei, San Bernandino/Kalifornien, Messerattacken in Israel, von Irak und Afghanistan gar nicht zu reden), es gab die großen Krisen der ersten Jahreshälfte - Ukraine und Euro -, später die große Flüchtlingskrise mit ihren zahlreichen Facetten, die komplexen Konflikte in Nahost eskalierten, weitere Brandherde flammten auf (Libyen, Jemen).
Der Überwältigungs-Höhepunkt scheint der November gewesen zu sein, als Flüchtlinge weiter in großer Zahl ins Land strömten, als die deutsche Fußballnationalmannschaft in Paris im Stadion festsaß, Paris selbst in Angst erstarrte, der Syrienkonflikt endgültig auf der Agenda war und ausgerechnet jetzt mit dem Abschuss eines russischen Flugzeugs Spannungen zwischen der Türkei und Russland auftraten. Die Ereignisse waren so stürmisch, das andere Wichtigkeiten unterzugehen drohten, wie der große Skandal beim DFB. Helmut Schmidt starb auch - in normaleren Zeiten die Nachricht überhaupt.
Es ist kaum möglich, den Überblick zu wahren (was ist eigentlich mit dem Vormarsch der illiberalen Demokratie, u.a. in der Türkei und Osteuropa? Was ist mit der schwachen EU? VW-Skandal?). Welche Meinung man über Angela Merkel auch hat, wie sie die schier unglaubliche Arbeitsbelastung bewältigt, nötigt Respekt ab.
Zwei Bemerkungen zu 2015, eine kurze und eine etwas längere:
1. Die Geographie Europas
Mögen die Konflikte der Zukunft vielleicht im ostasischen Raum liegen (Spratly-Inseln), Eurasien mit seiner „Kulturschnittstelle“ Nahost steht im Zentrum des Weltgeschehens, zwischen dem relativ peripheren China und den geradezu isolierten USA. Die einst berühmt-berüchtige deutsche Mittellage, diesmal weiter gefasst, nämlich die Mittellage Europas, rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit.
2. Das deutsche Jahrhundert
Die Terroranschläge in Frankreich haben davon abgelenkt, dass Deutschland die internationalen Nachrichten enorm geprägt hat. Es übernahm die Federführung in den Krisengesprächen zum Ukraine-Konflikt, ihm kam eine zentrale Rolle in der Eurokrise zu, die Flüchtlingskrise wurde vor allem in Deutschland verhandelt, ein deutscher Airbus stürzte in Frankreich ab, die deutsche Fussballnationalmannschaft war in Frankreich bedroht, VW-Skandal, der auch im Ausland hoch angesehene Helmut Schmidt starb. Auch die wichtige Rolle Merkels im internationalen Konzert fällt auf.
Was heißt das? Eine These:
Ulrich Herbert spekuliert 2013 in seiner Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert darüber, wann das letzte Jahrhundert wirklich zuende geht, eine beliebte Frage unter Historikern. Er schlägt zum Beispiel 1995 vor, als das Internet boomt und einen tiefgreifenden Wandel einleitet, oder 2008, als die größten Finanzkrise seit Jahrzehnten ausbricht. Vielleicht hat Herbert eines nicht bedacht: War das 20.Jahrhundert noch gar nicht zuende? Sondern erst jetzt, 2015? Das ist die Hypothese meinerseits.
In 2015 existiert eine unglaubliche Vielfalt an neuen, dynamischen Problemen, Probleme des 21.Jahrhunderts. Sie sind so präsent, dass der zweite Weltkrieg zur Mitte des letzten Jahrhunderts plötzlich wie Teil einer fernen Vergangenheit wirkt. Über ihn wird kaum noch etwas definiert: Deutschland ist als Teil der EU Vermittler in der Ukraine, es nimmt massenweise Flüchtlinge auf und steht in der Kritik aufgrund seiner Austeritätspolitik in der Eurokrise. Verschwindet der lange Schatten des zweiten Weltkriegs gerade? Zumindest der seiner direkten Folgen? Sind wir erst jetzt wirklich im 21. Jahrhundert angekommen?
Einen gewissen, wenn auch morbiden, Charme hätte die Betrachtung: 2015 starben gleich mehrere bedeutende Figuren der deutschen Kriegs- und Nachkriegseneration, nämlich Helmut Schmidt, Egon Bahr, Richard von Weizäcker und Günther Schabowski.

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