Die ARD meldet, 2015 so viele “Brennpunkte” ausgestrahlt zu haben
wie seit 1999 nicht mehr (1999 war nicht unbedingt ein Krisenjahr,
aber es gab den Kosovokrieg und Lafontaines Regierungsaustritt).
2015 geht in die Geschichte ein als Jahr der Überforderung, auch der
Medien. Schon bei der Aufzählung der Ereignisse weiß man gar nicht,
wo anfangen.
2015 sah zahlreiche Terroranschläge (u.a. zweimal Paris, Nigeria,
Tunesien, Kenia, Mali, mehrere in der Türkei, San
Bernandino/Kalifornien, Messerattacken in Israel, von Irak und
Afghanistan gar nicht zu reden), es gab die großen Krisen der ersten
Jahreshälfte - Ukraine und Euro -,
später die große Flüchtlingskrise mit ihren zahlreichen Facetten, die komplexen Konflikte in Nahost eskalierten, weitere
Brandherde flammten auf (Libyen, Jemen).
Der Überwältigungs-Höhepunkt scheint der November gewesen zu sein,
als Flüchtlinge weiter in großer Zahl ins Land strömten, als die
deutsche Fußballnationalmannschaft in Paris im Stadion festsaß,
Paris selbst in Angst erstarrte, der Syrienkonflikt endgültig auf
der Agenda war und ausgerechnet jetzt mit dem Abschuss eines russischen Flugzeugs Spannungen zwischen der Türkei und Russland auftraten. Die Ereignisse waren so stürmisch, das andere
Wichtigkeiten unterzugehen drohten, wie der große Skandal beim DFB. Helmut Schmidt starb auch - in
normaleren Zeiten die
Nachricht überhaupt.
Es ist kaum möglich, den Überblick zu wahren (was ist
eigentlich mit dem Vormarsch der illiberalen Demokratie, u.a. in
der Türkei und Osteuropa? Was ist mit der schwachen EU? VW-Skandal?). Welche Meinung
man über Angela Merkel auch hat, wie sie die schier unglaubliche
Arbeitsbelastung bewältigt, nötigt Respekt ab.
Zwei Bemerkungen zu 2015, eine kurze und eine etwas längere:
1. Die Geographie Europas
Mögen die Konflikte der Zukunft vielleicht im ostasischen Raum
liegen (Spratly-Inseln), Eurasien mit seiner „Kulturschnittstelle“
Nahost steht im Zentrum des Weltgeschehens, zwischen dem relativ
peripheren China und den geradezu isolierten USA. Die einst
berühmt-berüchtige deutsche Mittellage, diesmal weiter gefasst,
nämlich die Mittellage Europas, rückt in das Zentrum der
Aufmerksamkeit.
2. Das deutsche Jahrhundert
Die Terroranschläge in Frankreich haben davon abgelenkt, dass
Deutschland die internationalen Nachrichten enorm geprägt hat. Es
übernahm die Federführung in den Krisengesprächen zum
Ukraine-Konflikt, ihm kam eine zentrale Rolle in der Eurokrise zu,
die Flüchtlingskrise wurde vor allem in Deutschland verhandelt, ein
deutscher Airbus stürzte in Frankreich ab, die deutsche
Fussballnationalmannschaft war in Frankreich bedroht, VW-Skandal, der auch im
Ausland hoch angesehene Helmut Schmidt starb. Auch die wichtige Rolle
Merkels im internationalen Konzert fällt auf.
Was heißt das? Eine These:
Ulrich Herbert spekuliert 2013 in seiner Geschichte Deutschlands im 20.
Jahrhundert darüber, wann das
letzte Jahrhundert wirklich zuende geht, eine beliebte Frage unter
Historikern. Er schlägt zum Beispiel 1995 vor, als das Internet boomt und
einen tiefgreifenden Wandel einleitet, oder 2008, als die größten
Finanzkrise seit Jahrzehnten ausbricht. Vielleicht hat Herbert eines nicht bedacht: War das 20.Jahrhundert noch gar nicht
zuende? Sondern erst jetzt, 2015? Das ist die Hypothese meinerseits.
In 2015 existiert eine unglaubliche Vielfalt an neuen,
dynamischen Problemen, Probleme des 21.Jahrhunderts. Sie sind so
präsent, dass der zweite Weltkrieg zur Mitte des letzten
Jahrhunderts plötzlich wie Teil einer fernen Vergangenheit wirkt.
Über ihn wird kaum noch etwas definiert: Deutschland ist als Teil der EU Vermittler in der Ukraine, es nimmt massenweise Flüchtlinge auf und steht in
der Kritik aufgrund seiner Austeritätspolitik in der Eurokrise.
Verschwindet der lange Schatten des zweiten Weltkriegs gerade?
Zumindest der seiner direkten Folgen? Sind wir erst jetzt wirklich im
21. Jahrhundert angekommen?
Einen gewissen, wenn auch morbiden, Charme hätte die Betrachtung: 2015
starben gleich mehrere bedeutende Figuren der deutschen Kriegs- und
Nachkriegseneration, nämlich Helmut Schmidt, Egon Bahr, Richard von Weizäcker
und Günther Schabowski.
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