20. Juni 2016

Mutmaßungen über Britannien am Vorabend der Brexit-Abstimmung

Fragen Sie sich auch, was das mit der britischen EU-Abstimmung eigentlich soll? Dass die Brexit-Diskussion irgendwie absurd ist (und mittlerweile auch gefährlich)? Niemand sonst, etwa in Frankreich, Italien oder Deutschland träumt davon, die neue Schweiz oder das neue Singapur zu werden. Wirtschaftlich gesehen geht es um ein paar Milliarden Euro und mancher Beobachter glaubt, die Debatte wird eigentlich nur von Fremdenangst und -hass getrieben. Weil Großbritannien ein Einwanderungsland ist, soll es die EU verlassen. "Take back control" rufen die Gegner, als hätten die Briten ihre Souveränität in Brüssel abgegeben.
Erstaunlich wirkt die Emotionalisierung der Debatte, durch sie wird die Abstimmung womöglich eng. Warum nur diese totale Aufwallung, warum diese heftige Polarisierung? Ein paar Überlegungen.

Skepsis gegenüber dem Kontinent hat große Tradition auf den Inseln, das ist das eine. Aber lohnender ist die Beschäftigung mit dem Empire.
Um 1783 bis ca. 1815 wurde das britische Empire langsam zu dem, was wir heute aus zahlreichen Filmen, Büchern und anderen Darstellungen kennen: Eine steife, strenge, selbstbewusst-britische Kolonialherrschaft. Irgendwann damals entstanden die Grundlagen für dieses Klischee vom krebsrot uniformierten Offizier im indischen Dschungel bei der Tigerjagd, auf einem Elefanten reitend. Merkmale dieses klassischen Empires sind: liberalisierter (Frei-)Handel, Territorial-Herrschaft, religiöser Eifer (Missionarstätigkeit), Nationalismus, später auch Rassismus, Elitarismus/Klassenbewusstsein, aber auch zunehmende Demokratisierung.
Das ältere Empire, das bis ca. 1800 existierte - Großbritannien expandierte seit um 1600 -, wird anders charakterisiert. Es erscheint weniger territorial besitzergreifend, es ging ihm mehr um Handel- und Handelsmonopole. Man passte sich oft den Gegebenheiten vor Ort an, in Indien etwa trug man die örtliche Kleidung. Auch die Aufklärung und die damit verbundene Neugier trieb die Briten in die Welt hinaus. Freilich, Sklavenhandel und -besitz wurde erst im 19. Jahrhundert verboten. 
Ohne Englische Geschichte Spezialist zu sein: Interessant ist dieser Wandel vor 200 Jahren allemal. Meiner Meinung nach wurden damals Grundlagen gelegt, die die (konservative) britische Gesellschaft noch heute prägen: Ausnehmender Nationalstolz, Priorität einer liberalen Handels- und Finanzpolitik, vor allem das überbordende Selbstbewusstsein, britisch zu sein (Wobei britisch oft heißt, auch zur richtigen Klasse zu gehören). Letzteres resultiert sicher auch daraus, dass die Briten jahrzehntelang, vor allem während der napoleonischen Kriege, von Sieg zu Sieg eilten.
Um auf die aktuelle Lage zurückzukommen: Großbritannien hat den Rückbau des Empires in der Mitte des 20.Jahrhunderts zwar erstaunlich gut gemeistert, gesellschaftliche Strukturen aber, so meine These, gehorchen 200 Jahre alten Prinzipien, die überkommen sind. Ich rede von einem Selbstverständnis, welches sich ganz anschaulich bei Premier David Cameron manifestiert: demokratisch-konservativ, elitär (Eton-College Ausbildung), nationaler Fokus, neoliberal. Dabei spielt es keine Rolle, dass Cameron für den Verbleib in der EU plädiert, im Gegensatz zu seinem Widersacher in der Partei, dem skurillen Boris Johnson. Auch der Premier hat mit dem Austrittsgedanken gespielt. Beide, Johnson und Cameron, scheinen sich abseits dieser Frage eher zu ähneln.
Der Sport macht meine These vielleicht anschaulicher: Seit Jahrzehnten gelten die Fußballer Englands als Favoriten bei den großen Turnieren, immer zu unrecht, auch dieses Jahr wird es nichts werden. Der Grund: Die Engländer spielen so, wie ihr großer Held, Admiral Nelson einst Seeschlachten schlug: "Vergesst alle Manöver, immer ran an den Feind!" Leider funktioniert nicht alles über Willen, Dynamik und Kraft, es braucht auch Strategie. Die fehlt dem Fußball der Insel aber.
Noch griffiger ist der Blick auf den restlichen Sport: Um 2008-2012 begann eine goldene Zeit in Großbritannien. Beim heimischen Olympia 2012 holte man den 3. Platz im Nationenranking mit fast doppelt so vielen Medaillen wie 4 Jahre zuvor. Im Radsport gewannen zum ersten Mal britische Klassementfahrer die Tour de France. Nun bin ich lange genug Radsport-Beobachter, um zu glauben: Hier wandeln die Briten auf brüchigem Eis, ähnlich wie die Deutschen vor 20 Jahren, als die Telekom-Mannschaft mit Jan Ullrich reüssierte. Für mich ist es quasi ausgeschlosssen, dass dieser plötzliche Erfolg im Radsport und in vielen olympischen Disziplinen - man muss nur nach Russland schauen - mit rechten Dingen zugeht.
All diese Analogien liegen nahe und spielen doch kaum eine Rolle. Manchmal wirkt es wie ein Spiel, Hauptsache Drama, Spannung, Erfolg, Great Britain. Die affirmative, nationale Selbstbestätigung ist unabdinglich. Vielleicht symbolisiert dieser "Emotionsüberhang" einen Phantomschmerz, den das untergegangene Empire hinterlassen hat? Meine Mutmaßung: Gerade die Brexit-Debatte zeigt, dass Großbritannien seine Vergangenheit noch lange nicht bewältigt hat, im Gegenteil, das wird ein Thema für die kommenden Jahre sein.
Doch wie auch immer die Abstimmung ausgeht: der britische Humor (wir witzlosen Deutsche nennen ihn ja hilflos "schwarzer Humor") trägt wiederum dazu bei, nicht alles zu schwer zu nehmen. Die Rede von 2008 des Brexit-Befürworters Boris Johnson, damals Londoner Bürgermeister, zum kommenden Olympia in London heißt "Ping Pong is coming home" und ist zum niederknien.

2 Kommentare:

  1. Mentalitäten sind narrations longuée dure. Sie bleiben über lange Zeit fest in Völkern und Kulturen verankert. Auch spontane impulsive Ereignisse - événement -, wie ein Brexit, gehen auf sie zurück.
    Die Idee allerdings, GB müsste seine "Vergangenheit bewältigen" kann nur von einem deutschen Autor kommen. Denn im Gegensatz zu Kontinentaleuropa blickt England, welches das letzte mal 1066 erobert wurde, auf eine beinahe ungebrochene Tradition der inneren Demokratisierung zurück. Begonnen mit der ständischen Emanzipation gegenüber dem Königshaus im hohen Mittelalter und schließlich endgültig erfolgreich mit der Glorious Revolution im 17. Jahrhundert. Der Autokrat Bismarck blickte deshalb neidisch zur Insel und sinnierte, wenn die Geschichte es mit Deutschland so gut gemeint hätte wie mit England, könnte er sich auch hier eine parlamentarische Demokratie vorstellen. Im II. WK war England dann gar die einzige verbliebene bedeutende Demokratie in Europa. Der Gedanke Vergangenheit bewältigen zu müssen, liegt einem Deutschen deshalb eben so nahe wie er einem Briten fern liegt.

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  2. Du hast recht, was die Semantik betrifft. Das sehr deutsche "Vergangenheitsbewältigung" ziehe ich zurück und nehme dafür "Aufarbeitung". Denn bei meiner These bleibe ich: Die Folgen des jahrhundertlangen britischen Expansionskurses auch für das eigene Selbstverständnis sind bisher in der Brexit-Debatte nicht angekommen. Sollten sie aber.
    Eine kleine Einschränkung, was demokratische Strukturen betrifft: Mag auf der Insel auch die wesentlich größere demokratische Tradition herrschen, zu Beginn des 20.Jahrhunderts hatte Deutschland das progressivere Wahlrecht.

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