20. April 2017

Dreht sich der Wind?

Die liberale Journalistin Dunja Hayali wird nachdenklich angesichts der Mehrheit der „deutschen“ Türken, die beim Referendum in der Türkei pro Erdogan stimmten. Und sie ist nicht die einzige: Mit ihrem Abstimmungsverhalten haben sich die konservativen Türken in Deutschland keinen Gefallen getan. Einiges deutet daraufhin, dass sich das Verhältnis in Deutschland zu seiner türkischen Minderheit abkühlt.  


Es existieren verschiedene Phasen der Toleranz in Ländern gegenüber Minderheiten. In Deutschland sind wir in einer liberalen Phase. Sie folgte dem Ringen um Akzeptanz von Ausländern und der Gastarbeiterdebatte der 70er und 80er Jahre.
Die TV-Serie „Türkisch für Anfänger“ – eine der besten deutschen Comedy-Serien überhaupt – steht für diese Perspektive gelungener türkischer Einwanderung, der Kinohit „Almanya – Willkommen in Deutschland“ schlug 2011 in dieselbe Kerbe. Weitere Beispiele belegen, dass Integration gelingen kann (Mesut Özil!).
Doch angesichts jüngster Entwicklungen gerät der Islam in Deutschland in den allgemeinen Fokus: Da ist die Polarisierung der türkischen Politik, die auch auf Deutschland übergreift. Weiterhin spielen die Flüchtlingskrise von 2015 eine Rolle, die islamistischen Anschläge der vergangenen Monate, es gibt die Debatte um konservative bis radikale Moscheen - auch um die sogenannten "Erdogan"-Moscheen - und neulich wurde ein jüdisches Kind von der Schule genommen, weil muslimische Schulkameraden es diskriminierten.
Man muss natürlich differenzieren. Mit vielem hat etwa die türkische Gemeinde nichts zu tun. Aber: Fühlt sich die Gesellschaft als ganzes nachhaltig bedroht, könnte das eines Tages den Spielraum von Minderheiten deutlich einschränken.
Die USA waren jahrzehntelang äußerst tolerant gegenüber eingewanderten Deutschen. Deren Kultur blühte, ähnlich der der Türken in Deutschland: Deutsch war verbreitet, es gab deutsche Zeitungen und kulturelle Festivitäten. Doch als die USA 1917 dem deutschen Kaiserreich den Krieg erklärten, hieß es in der amerikanischen Gesellschaft nicht etwa: „Unsere Deutschen können doch für den Kaiser in Deutschland nichts“, sondern: "Achtung, wir haben eine fünfte Kolonne im Land". Die Deutschen gerieten unter gewaltigen Assimilierungsdruck, der schließlich dafür sorgte, dass die deutsch-amerikanische Kultur in den USA weitgehend verblasste.
Tolerante Haltungen können sich ändern, wenn der aufnehmende Staat seine Toleranzgrenze überschritten sieht.
Cem Özdemir ist einer, der diese Problematik erfasst - wenn auch auf seine mitunter bräsige Art. Pragmatisch postuliert der grüne Spitzenmann: Erdogan gehe gar nicht, und in Deutschland müssten sich alle bewegen, die Türken selbst, die sich gesellschaftlich zu wenig einbringen, wie auch Politik und Gesellschaft, die Fehler in der Integration begangen haben. Ich gebe Özdemir recht, Gemäßigte und Liberale jeglicher Herkunft müssen jetzt zusammenrücken.
Leider hängt das türkisch-deutsche Verhältnis nicht alleine davon ab, sondern auch von dem unberechenbaren Machthaber in Ankara, Erdogan. Deshalb, so ist zu befürchten, stehen die deutsch-türkischen Beziehungen vor ihrer größten Prüfung seit Jahrzehnten.
Update 21.4.:
Dieser heutige Artikel tut genau das, was ich befürchte. Er ist aufgeladen und wetzt die Klingen: Mit den Türken sei nicht mehr zu reden, wir müssten handeln, die Zeit der Weicheierei sei vorbei.

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