1. Juli 2017

The Chancellor´s Two Bodies - Der Historiker Kohl und die Historie

Über den jetzt verstorbenen Altkanzler Helmut Kohl ist sehr viel gesagt worden. Die „überdurchschnittliche Durchschnittlichkeit“ der britischen Journalistin Patricia Clough beschreibt seinen menschlichen Erfolg ebenso gut, wie die Charakterisierung als „alter unbeweglicher Eichenschrank“ seinen machtpolitischen. Das heißt nicht, dass etwa genug über ihn gesagt worden wäre. Denn wie uns die Geschichte lehrt, verändert sich der Blick auf ihre Protagonisten im Laufe der Generationen. So war etwa Kohls Amtsahn Otto von Bismarck zu Lebzeiten Gegenstand großer Verehrung und abgrundtiefen Hasses. Nach seinem Tod wurde er v.a. im Dritten Reich verklärt und verzerrt. Gerade deshalb gehörte er für die Nachkriegsgeneration ins Horrorkabinett der Geschichte. Einer an dem man nur ein gutes Haar ließ, wenn man selbst nichts mehr zu verlieren hatte. Heute versucht man den ersten Deutschen Kanzler, ebenso wie sein Preußen, objektiv zu behandeln. Wird es Helmut Kohl ähnlich ergehen? Wird man auch ihn eines Tages objektiv beurteilen? Kann man sein politisches Wirken überhaupt objektiv beurteilen? Dieser Artikel behauptet, dass er selbst das unmöglich gemacht habe.

Als Kanzler hat Kohl in einem historischen Ausnahmemoment das Richtige getan. Vielleicht weil er gelernter Historiker war, erkannte er, dass Türen in der Geschichte nicht ewig offen stehen. Beherzt nahm er die Verantwortung seines Amtes an und führte sein Land zur Wiedervereinigung. Die Chance dazu hatten Willy Brandts Ostpolitik, Glasnost, Perestroika und die Leipziger Montagsdemonstrationen geschaffen. Die diplomatischen und politischen Widerstände überwand Kohl. Außenpolitisch kamen sie vor allem von unseren europäischen Freunden in England und Südeuropa, innenpolitisch von intelligenten Männern, denen es an Format fehlte. „Wir Journalisten hätten uns 1989 noch nicht einmal getraut das Wort Wiedervereinigung in den Mund zu nehmen“, bekannte Spiegel Chefredakteur Klaus Birkenbäumer. Es bedurfte wohl eines Historikers, sich nicht mit Erbsenzählerreihen aufzuhalten, wie es sein damaliger Kontrahent Oskar Lafontaine in dieser historischen Stunde tat. Eine von Patriotismus getragene Sehnsucht nach Einheit konnte Kohl vorantreiben, da er über fundamentale Zweifel erhaben war. Er besaß Nationalstolz und war zugleich überzeugter Pazifist und Europäer. Hier war er seiner Zeit voraus.
Natürlich ist auch das über Helmut Kohl gesagt worden: Von Wirtschaft verstand er nichts und sie interessierte ihn auch nicht. Von seinem Unwort der „blühenden Landschaften“ zur desillusionierenden Abwicklung ostdeutscher Schicksale durch die Treuhand war es deshalb nicht weit.
Doch sein Denkmal wurde nicht von diesem Mangel ökonomischen Sachverstands beschädigt. Dazu hat vor allem der Mensch Helmut Kohl selbst beigetragen. Ein Machtmensch, Spießbürger, rachsüchtig und am schlimmsten: mit ihm brach die Institution "Bundeskanzler" Recht und Grundgesetz. Er leistete sich zwei große Parteispendenaffären. Soweit nicht außergewöhnlich in der Politik. Doch bei der zweiten stellte er seine persönlichen Wertvorstellungen ganz offen über das Gesetz. So wie er in seiner größten Stunde davon profitierte, Historiker gewesen zu sein, so missachtete er in seinem schwächsten Moment die Regeln der Geschichte. Er verweigerte die Aussage und die Nennung der Parteispender, weil er ihnen „sein Ehrenwort“ gegeben hatte. Das Ehrenwort des Menschen Kohl stand für ihn über der Würde des Amtes. Und das nicht etwa listig und heimlich,  sondern trotzig und öffentlich. Weshalb kann dieses juristische Fehlverhalten den historischen Titel als "Kanzler der Einheit" beflecken?

Der deutsche Berkeley-Historiker Ernst H. Kantorwicz hatte 1957 in „The King´s Two Bodies“ geschildert wie die Dualität der Macht –ein Mensch wird durch Annahme eines Staatsamtes zu einer Institution - im Lauf der Jahrhunderte untrennbar verschmolz. Es kommt zur repräsentativ- juristischen Transformation eines Menschen mit einem Amt. Im Amt aufgehend repräsentiert sein neuer politischer Körper nun die Mitglieder seiner Gemeinschaft ebenso wie die Institutionen des Staates. Hierbei können die Auserwählten ihren biologischen Körper hinter sich lassen und zu etwas Größerem werden. Dieses Neue nährt sich zwar noch von den Begabungen des Menschen, es bleibt aber in der Geschichte bestehen wenn dessen biologische Existenz längst vergangen ist – universitas non moritur. Der Historiker Kohl hat die Arbeit des Historikers Kantorowicz, immerhin ein Höhepunkt abendländischer Geisteskultur, vermutlich gekannt. Dennoch entschied er sich, seine größten Amtsverfehlungen unter das Primat seiner zutiefst privaten Ansichten zu stellen. Gerade er hätte wissen müssen, dass das nicht nur juristisch verfehlt ist, sondern auch das Zeug hat, an seinem historischen Andenken haften zu bleiben. Helmut Kohl entschied sich, seine mit allen Unzulänglichkeiten behaftete Menschlichkeit ebenso zum Gegenstand der Erinnerung zu machen, wie die großen Leistungen seiner politischen Existenz. Kantorowicz hatte die Unsterblichkeit des politischen Körpers gegenüber dem vergänglichen natürlichen Körper betont. Kohl verwob Beides vor aller Augen.
Dass das keine gute Entscheidung war, zeigt in seinen letzten Jahren der verbitterte Rückzug ins heimische Krähennest. Von dort schien es ihm, als würden Dilettanten sein Erbe zerstören, während er zur kauzig-nörgelnden Ungestalt verkam. Auch hier dem Amtsahnen Otto von Bismarck nicht unähnlich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen