5. September 2017

Failure of Vergangenheitsbewältigung

Es brauchte einen Germanisten, um den Briten die Wahrheit aufs Brot zu schmieren: Der englische Goethe-Experte Nicholas Boyle erklärt, was der Brexit wirklich bedeutet. Den Text schrieb er vor einigen Monaten, aber er ist immer noch aktuell. Und besser als alles, was mir zu dem Thema bisher unterkam.

Viele, auch ich, versuchen den Brexit mit sozialer Ungleichheit zu erklären, mit neoliberalistischer Politik und rechter Demagogie.
Boyle wählt den für Literaturwissenschaftler typischen Weg, den der Psychologie. Sein Argument: Nicht die Briten, sondern die Engländer - nur dort gab es ja eine Brexitmehrheit - hätten den Untergang ihres Empires nicht verarbeitet. Jahrhundertelang seien sie ohne Identität geblieben, stattdessen in etwas Größerem aufgegangen: Zunächst in Großbritannien, später im weltumspannenden Empire. Nun sei das alles vorbei, aber das Einordnen, als „Teil des europäischen Archipels“, das wollen sie trotzdem nicht.
Boyles Argumentation ist so schlagend, weil sie so spezifisch ist. Irgendwie war die koloniale Vergangenheit zwar präsent in vielen Erklärungsversuchen, aber Boyle glaubt an eine relative Ausschließlichkeit anderer Gründe. Es sei eine „emotionale Abstimmung über die EU“ gewesen, und diese sei von Engländern negativ gesehen worden. Schließlich hätte man sich unter Gleichen eingliedern müssen, dies habe aber die fehlende englische Identität nicht erlaubt.
Boyle übertreibt es freilich ein wenig: Ich finde, man kann den Engländern politisch sehr wohl eine Identität geben: Lange Zeit hielten sie sich für unangreifbar, für überlegen („... punch above its weight“).
Und natürlich, es spielen auch andere Beweggründe eine Rolle. In vielen Teilen im Westen sind rechte Demagogen auf dem Vormarsch. Wenn die Briten ihre Beweggründe hatten, so haben sie auch die Amerikaner: Ist der amerikanische Exzeptionalismus vielleicht auch vorbei? Weitere Länder haben ähnliche Phantomschmerzen: Boyle selbst spricht Frankreich und Russland an, die ebenso ganze Reiche verloren. Überall dort gibt es starke Schrumpfungsschmerzen, und man kämpft mit Rechtspopulismus. Und damit, dass der westlich-kapitalistische Weg nicht mehr die Wachstumschancen verspricht wie einst.
Aber man muss diese Vergleiche auch nicht übertreiben. Großbritannien jedenfalls spürt  die größten Folgen seiner Vergangenheit vielleicht erst jetzt. Über den Verlauf der Austrittsverhandlungen liest man nichts gutes. Ein Problem sei etwa die miserable Führung: Theresa May sei eine Premierministerin auf Abruf, ihr potentieller Nachfolger, Außenminister Johnson werde in der Welt verlacht, und der Brexitminister Davis arbeite nur drei bis vier Tage die Woche.
Aber dass die Briten sich benehmen „wie Raufbolde in einem Park“ (Boyles), heißt nicht, dass sie ihr kurzfristiges Ziel nicht erreichen: Eine Trennung von der EU zu ihren Vorstellungen. Das langfristige Problem wäre damit nur vertagt. Dazu gehört etwa die elende Diskussion, ob Großbritannien überhaupt zu Europa gehöre. Das tut es, ob es will oder nicht. Und, es gibt noch Schottland, Wales und Nordirland, die alle in der EU verbleiben wollten. 
Die Geographie läßt sich nicht ändern. Und die Vergangenheit auch nicht. 

- Dies ist ein Beitrag zur losen Serie "Über das Ende der Herrschaft des weißen Mannes"

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